Ein Wendepunkt in der deutschen Politik – eine Chance für Polen?

1. Eine klare Mehrheit der deutschen Gesellschaft unterstützt heute die strategische Neuausrichtung in den Beziehungen zu Russland. Die heftigen politischen Auseinandersetzungen über das Tempo und die sozialen Kosten dieses Prozesses belegen, dass Deutschland einfach einen längeren Weg zurückzulegen hat. Der Bankrott der Russlandpolitik hat dort eine Grundsatzdebatte über die Rolle Deutschlands in der Welt ausgelöst. Das ist mit den Dilemmata anderer unvergleichbar. Nach dem Zweiten Weltkrieg moralisch diskreditiert, erhielt Deutschland trotz allem die Chance, sich der demokratischen Gemeinschaft anzuschließen. Und es wunderte niemanden, dass es Selbstbeschränkung in der Außenpolitik wählte. Im Rahmen der westlichen Rollenverteilung setzte es im Verhältnis zu Russland auf Dialog mit Elementen der Abschreckung, während andere auf Abschreckung mit Elementen des Dialogs setzten. Für Putins Russland wurde dies jedoch zur Gelegenheit, einen Keil zwischen die Staaten des Westens zu treiben, und für die deutsche Wirtschaft eine Gelegenheit, aus politischen Skrupeln einen Nutzen zu ziehen. Mit wachsender Verwunderung nahmen wir die Versicherungen auf, dass Deutschland „nichts tun wird, was den Dialog mit Putin erschwert”, hatten wir doch gesehen, dass er an keinem Dialog interessiert war.

2. Aber heute wurde in Deutschland eine neue Normalität proklamiert, die eine Abkehr von dem Mantra „Sicherheit nur mit Russland” hin zu einer kontrollierten Konfrontation mit einem Gegner bedeutet, der Gewalt einsetzt, um die internationale Ordnung zu zerstören. Berlin hat die Verteidigungsausgaben radikal erhöht. Es nimmt Aufgaben wahr, die den Schutz des östlichen Teils der Gemeinschaft sicherstellen sollen. Es spielt eine Schlüsselrolle bei den europäischen Krisenreaktionskräften und der Stärkung der Ostflanke. Das ist eine Ankündigung eines revolutionärer Wandels, auch wenn manche Prozesse noch zu langsam verlaufen. Doch dieser Wandel, wie auch die Aufrechterhaltung der Einheit in Europa, sollte für ein Frontland, wie es Polen heute ist, von grundlegender Bedeutung sein. Das ist keine Zeit, um Streitigkeiten mit dem westlichen Nachbarn zu eskalieren und aus antideutscher Hysterie politisches Kapital für innenpolitische Zwecke zu schlagen. Unterdessen scheinen sich die polnischen Regierenden lieber an einer Hetzjagd beteiligen zu wollen als an der „Formulierung einer gemeinsamen Antwort”.

3. Vielleicht wäre die EU besser auf den Schock des russischen Angriffs auf die Ukraine vorbereitet gewesen, wenn der Völkerherbst 1989 mehr Raum im europäischen Gedächtnis eingenommen und tieferes Nachdenken ausgelöst hätte. Die Gemeinschaft versucht das nun nachzuholen und macht eine Phase der „Veröstlichung” durch. Eine wesentliche Rolle spielen dabei Städte, Regionen und Nichtregierungsorganisationen in den Mitgliedstaaten, indem sie Bürger aus der Ukraine unter dem eigenen Dach aufnehmen. Das heißt, in die EU. In den Gesellschaften und politischen Eliten vollzieht sich eine mentale Revolution: Sie betrachten den Osten nicht mehr durch die russische Brille, sondern nehmen dort Subjekte mit eigenen Identitäten und Interpretationen der Geschichte wahr. Sie beginnen zu begreifen, dass Putins Revisionismus in erheblichem Maße auf die Nichtberücksichtigung der Erfahrungen Ostmitteleuropas seitens des Westens zurückzuführen ist. Deutschland steht nun unter dem Druck, mehr Verantwortung für die Einheit Europas und den Schutz seiner östlichen Mitglieder zu übernehmen. Man erwartet von ihm als größtem Staat der EU, dass es vor Aktivität in der Außenpolitik nicht länger zurückschreckt. Zugleich ist sich Deutschland darüber im Klaren, dass es viel von seiner Glaubwürdigkeit verloren hat und dass eine kooperative Führung, mit einer stärkeren Beteiligung der östlichen Nachbarn ein vernünftiger Ausweg sein könnte. Diese Nachbarn, insbesondere Polen, könnten wiederum im Rahmen einer ereignisbedingten „Veröstlichung” der Union mehr Instrumente realer Einflussnahme erhalten. Natürlich sofern sie dazu bereit sind, sich das Schicksal der Gemeinschaft angelegen sein zu lassen und zusammen mit anderen an ihrer Stärkung zu arbeiten. Einstweilen schließen sich jedoch die polnischen Regierungseliten selbst von diesem Prozess aus. Sie verspielen ihre Chancen, indem sie das Verhältnis zu Deutschland vergiften und sich zu jedweden Reformen in der EU passiv oder sogar feindselig verhalten.

4. Unterdessen muss die EU in vielen Bereichen die Zusammenarbeit intensivieren, um ihre Abhängigkeit von Russland und China zu verringern und sich für den Fall eines ungünstigen Szenarios in den USA abzusichern. Nur wenn sie ihre Reihen schließt, kann sie Demokratie, Menschenrechte und den freien Markt wirksam verteidigen. Sie bedarf größerer Effektivität im Handeln, um den Herausforderungen des Krieges zu begegnen und sich weiterhin erweitern zu können. Beides liegt im vitalen Interesse Polens. Die deutschen Vorschläge für eine engere Zusammenarbeit innerhalb der Gemeinschaft, die Abschaffung der Einstimmigkeit in außenpolitischen Fragen sowie des Vetos bei Erweiterungsverhandlungen sind ein Versuch, diesen Erwartungen gerecht zu werden. In den polnischen Regierungseliten wurden sie auf der Stelle allein als Ausdruck der „imperialistischen” Reflexe Berlins denunziert. Natürlich können nicht alle diese Vorschläge heute mit breiter Zustimmung rechnen. Aber es lässt sich schwerlich übersehen, dass die polnische Regierung nicht im Geringsten an Problemlösungen gemeinsam mit den Deutschen interessiert ist. Sie braucht sie viel mehr in der Rolle des Feindes vom Dienst, gegen den man die harte Wählerschaft mobilisieren kann.

5. Deutschland das Streben nach Hegemonie zur Last zu legen, trägt dazu bei, in der Öffentlichkeit Abneigung gegen die EU zu verstärken und zugleich Versuche, sie zu verbessern, zu blockieren. De facto auf eine Schwächung der Gemeinschaft zu setzen, steht in krassem Widerspruch zur Unterstützung für eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine. So als wünschte sich die polnische Regierung für die Ukraine eine andere Union, zum Beispiel eine, die sich in Fragen der Rechtsstaatlichkeit „nicht einmischt”. Dabei ist doch gerade die Einführung der gemeinschaftlichen Verfahren und Garantien in diesem Bereich die Voraussetzung für den Start von Wiederaufbauprogrammen für Kyjiw unter Beteiligung von Drittländern und internationalen Institutionen. Eben deshalb hielt der Westen es für fundamental wichtig, dass der Ukraine der Status eines EU-Beitrittskandidaten zuerkannt wird.

6. Auch die These, dass Berlin eine Föderalisierung der EU forciere, um sich eine Vormachtstellung zu sichern, ist sehr weit hergeholt. Tatsächlich enthält der Koalitionsvertrag der neuen Regierung in Berlin zwar einen Eintrag über das Streben nach einem „föderalen Europa”, doch – wie die Autoren dieses Eintrags bereits mehrfach erläutert haben – ging es hier um die politische Unterstützung für den Prozess der europäischen Integration, was in Deutschland üblicherweise in dieser Sprache zum Ausdruck gebracht wird. Wichtiger ist allerdings, dass über die Annahme des Mehrjährigen Finanzrahmens (des Kernhaushalts der EU) weiterhin die Mitgliedstaaten und nicht die Kommission entscheiden. Deutschland hat nicht nur nicht auf „föderale” Lösungen gedrängt, sondern nur sehr widerstrebend unter dem Druck der südlichen Staaten einer teilweisen und an Bedingungen gebundene Vergemeinschaftung der Schulden im sogenannten Wiederaufbaufonds zugestimmt. Wenn es also um die Verteilung der Mittel aus beiden Haushalten geht, handelt es sich hier höchstens um einen Schritt hin zu einer EU der engeren Zusammenarbeit, der im Übrigen durch den Selbsterhaltungstrieb und nicht imperiale Ambitionen Berlins motiviert ist.

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Die aggressive antideutsche Politik ist einem partikularen Ziel der Vereinigten Rechten untergeordnet: dem Aufbau einer autoritären Macht in Polen. Das heutige Deutschland ist eine stabile liberale Demokratie, die stärkste Volkswirtschaft in Europa und ein willkommener Verbündeter Polens in der Konfrontation mit dem russischen Revisionismus. Nach der Entfernung der Partei „Recht und Gerechtigkeit” von der Macht sollte die Hinwendung zu einer durchdachten Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland ein Grundelement bei der Reaktivierung der polnischen Außenpolitik bilden.

gez: Botschafterkonferenz der Republik Polen

Die Botschafterkonferenz der Republik Polen ist eine Vereinigung ehemaliger Vertreter der Republik Polen, deren Ziel es ist, die Außenpolitik zu analysieren, aufkommende Gefahren für Polen aufzuzeigen und Empfehlungen zu erstellen. Wir möchten eine breite Öffentlichkeit erreichen. Uns eint die gemeinsame Arbeit und die Erfahrung in der Gestaltung der Position Polens als eines modernen europäischen Staates und wichtigen Mitglieds der Transatlantischen Gemeinschaft. Wir sind überzeugt, dass Außenpolitik die Interessen Polens und nicht die der Regierungspartei vertreten sollte.

ambasadorowie.org

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