„Die Geschichte soll ein Tor in die Zukunft sein“

Über das deutsch-polnische Schulbuch für Geschichte

  1. Seit längerer Zeit ist zu vernehmen, dass das vierbändige Schulgeschichtsbuch Europa. Unsere Geschichte, das polnische und deutsche Historiker gemeinsam erarbeitet haben, durch die polnischen Bildungsbehörden marginalisiert wird. Ende vergangenen Jahres meldeten sich deswegen die ehemaligen Vorsitzenden der Gemeinsamen Polnisch-Deutschen Schulbuchkommission der Historiker und Geographen, die Professoren Robert Traba und Michael G. Müller, in einem alarmierenden Brief zu Wort.[2] Sie wiesen darauf hin, dass die derzeitige polnische Regierung nicht nur die öffentliche Würdigung dieses Gemeinschaftswerks polnischer und deutscher Historiker verweigert, sondern auch das Projekt für beendet erklärt und der Einführung des Schulbuchs in den Geschichtsunterricht de facto entgegen gewirkt hat. 
  • Die Konferenz der Botschafter der Republik Polen hat beschlossen, dazu Stellung zu nehmen, da dem Geschichtsunterricht für die jungen Generationen gerade im Kontext des polnisch-deutschen Verhältnisses besondere Bedeutung zukommt. Vor allem hier kann ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein entwickelt werden, das Verständnis für die Tragödie des Zweiten Weltkriegs schafft, auch für die deutschen Kriegsverbrechen in Polen sowie für die Probleme der territorialen Veränderungen. Die Kenntnis diese Geschichte ist eine zentrale Voraussetzung für jenen Prozess der Verständigung und Versöhnung, welcher auch für die folgenden Generationen von Polen und Deutschen eine Herausforderung bleibt, und, in weiterer Perspektive, für die Entwicklung Europas hin zu einem integrierten Kontinent. Ohne eine glaubwürdige polnisch-deutsche Zusammenarbeit bleibt der europäische Integrationsprozess Gefahren ausgesetzt.
  • Dieser Einsicht trug man direkt nach der Unterzeichnung des Vertrags über die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland vom 7. Dezember 1970 Rechnung, indem 1972 unter der Ägide der UNESCO die Gemeinsame Schulbuchkommission der Historiker und Geographen (die 2022 ihr fünfzigjähriges Bestehen feierte) gebildet wurde. Unter den damaligen politischen Umständen blieben deren Handlungsmöglichkeiten begrenzt, doch bot sie ein wertvolles Diskussionsforum für polnische und deutsche Wissenschaftler und Pädagogen, und ihre 1976 verabschiedeten „Schulbuchempfehlungen“ markierten, neben dem Vertrag von 1970, eine wichtige Etappe auf dem Weg zu dem Umbruch in den polnisch-deutschen Beziehungen der Jahre 1989/1990 dar.
  • Nach Abschluss des Vertrags über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991 unterstützten die Regierungen Polens und Deutschlands die Aktivitäten der Kommission weiter. In dieser neuen Phase in der Gestaltung der bilateralen Beziehungen erlangte die Kommissionsarbeit eine besondere Dynamik und weckte zunehmend internationale Aufmerksamkeit, auch außerhalb Europas. Die Diplomaten, welche die polnischen Außenminister bei deren Auslandsreisen begleiteten, waren oft Zeugen dessen, dass Fragen nach den Leistungen der Kommission am Anfang der politischen Gespräche gestellt wurde. Das gilt besonders für Staaten, die ihrerseits mit der Aufarbeitung schwieriger historischer Nachbarschaftsbeziehungen zu tun haben. Davon gibt es nicht wenige. In der Regel erwies sich, dass diese Staaten noch immer am Anfang eines Wegs stehen, der im polnisch-deutschen Verhältnis ungeachtet der allgemein bekannten Lasten der Vergangenheit weitgehend bewältigt werden konnte. Die Leistungen der Schulbuchkommission sind zum Markenzeichen eines neuen Polen geworden – eines demokratischen und dialogfähigen, das bereit ist, sich seiner eigenen Geschichte in allen ihren Schattierungen zu stellen.
  • Im Mai 2008 begann die Kommission auf Ersuchen der beiden Außenminister die Arbeit an einem Schulbuch zur europäischen Geschichte für die Sekundarstufe. Der letzte der vier Bände, der die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts behandelt und 2020 erschien, hat bei polnischen Experten wie auch international große Anerkennung gefunden. Er bildete den krönenden Abschluss der langjährigen Anstrengungen von Historikern aus beiden Ländern, historische Vereinfachungen und nationale Geschichtsmythen zu überwinden. Die Verfasser haben Einmaliges geleistet in dem Bemühen, die historischen Ereignisse je auch aus der Perspektive des Nachbarn wie aus der der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen darzustellen. Auch haben sie das Ziel verfolgt, das Fortbestehen kontroverser Bewertungen vieler historischer Ereignisse darzustellen und auf diese neue Felder für die Deutung von Geschichte zu eröffnen.
  • Bei den ständig von Seiten von PiS-Politikern geführten Attacken gegen Deutschland, des derzeit wichtigsten Partners Polens in der Europäischen Union und in der NATO, spielt oft auch der Vorwurf eine Rolle, dass in der schulischen Bildung in Deutschland die deutschen Verbrechen in Polen während des Zweiten Weltkriegs nicht angemessen berücksichtigt würden. Bezweckt wird damit, Polen und Deutsche zu entzweien, beide Staaten politisch zu polarisieren und damit letztlich die europäische Integration zu schwächen. Ihren gemeinsamen Nenner haben diese Bestrebungen in dem Ziel, ihre eigene Wählerklientel unter antideutschen Vorzeichen zu festigen.
  • Das gemeinsame Werk polnischer und deutscher Historiker und Didaktiker wurde zum Opfer eines Kreuzzugs, der auf eine ideologische Erziehung junger Menschen zu religiösen Fundamentalisten und Feinden Deutschlands zielt sowie darauf, sie gegen eine angeblich degenerierte Europäische Union bzw. eine uns fremde westliche Kultur aufzubringen. Seinen Ausdruck findet dieser Kreuzzug zugleich in dem von der jetzigen Regierung geförderten, berüchtigten Schulbuch für das neue Schulfach „Vergangenheit und Gegenwart“.

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Vor 40 Jahren schrieb Jan Józef Lipski, dass „Xenophobie und nationale Megalomanie sich gegenseitig nähren und unterstützen“. Er unterstich, dass man sich in Polen sehr wohl bewusst ist, wieviel die Polen durch die Deutschen erlitten haben; doch dies, so betonte er, „berechtigt  nicht dazu, die Grenzen von Dummheit und Hass“ im Verhältnis zu der Nachbarnation zu überschreiten, denn „durch Dummheit und Hass schaden die Einzelnen und die Nation sich selbst“[3]. Eine ebenso bittere wie zutreffende Feststellung, die für alle autoritären Regime zutrifft.

Unterzeichnet: Die Konferenz der Botschafter der Republik Polen


[1] Jan Józef Lipski, Dwie ojczyzny, dwa patriotyzmy (uwagi o megalomanii narodowej i ksenofobii Polaków) [Zwei Vaterländer, zwei Patriotismen (Anmerkungen über nationale Megalomanie und die Xenophobie der Polen9]. In: Umysł niepodległy. Autobiografia odczytana, Ośrodek Karta, Warszawa 2022, 375.

[2] Gazeta Wyborcza, 28. Dezember 2022.

[3] Lipski, Dwie ojczyzny, dwa patriotyzmy, 372.

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